Gemeinsam mit Marek, dem Fotografen und Kameramann, fliege ich am 23.3.2011 nach Conakry. Cordelia und Toure erwarten uns mit ihren Kindern am Flughafen. Ein Freund hat ihnen Zugang verschafft, denn eigentlich dürfen nur Passagiere hinein. Alia, der unseren Krankenwagen fährt und instand hält, wartet auf dem Parkplatz. Er soll Marek und mich in den vier Wochen unseres Aufenthaltes fahren. Es ist Abend und Conakry liegt im Dunkeln, Licht geben Autos und die an den Straßenrändern brennenden Müllhaufen. Viele, viele Menschen sind auf den Straßen, lachende, schwatzende Gruppen sammeln sich vor Fernsehern.
Essen
Auf dem Weg zur Wohnung der Familie holen wir bei Mme Fifi Essen ab, das sie für uns gekocht hat. Denn eine Küche hat auch die Wohnung, die der Hafenmeister Mr. Sankhon der Familie Hoppe-Toure zur Verfügung gestellt hat, nicht. Das Essen wird überall ebenerdig im Innenhof [oder an der Straße] gekocht, der kleine Metallkocher wird mit Holzkohle angefeuert. Es gibt Frittiertes: Kartoffeln, Kochbananen, Maniok, Hähnchen- fleisch. Lecker. Neben Mme Fifi kochen Toures Nichte und die Frau von Toures Freund Gassim für uns, je nachdem, welche Wegstrecken wir an dem Tag zurücklegen. Und meistens gibt es Reis mit einer Soße aus Fisch oder Hähnchenfleisch, etwas Gemüse und viel Chili. Manchmal kochen auch Cordelia und Toure auf dem kleinen Gaskocher, den sie in Conakry gekauft haben. Vor jedem Essen – und dies gilt für jede Kleinigkeit – reiben wir Geschirr und Besteck mit einem Feuchttuch ab und desinfizieren unsere Hände. Auf diese Weise konnte sich die Familie bei allen Aufenthalten in Guinea vor Durchfallerkrankungen schützen, jetzt mit dem Ausbruch von Ebola, wurden diese regelmäßigen Desinfektionen noch wichtiger.
Autofahren
ist eine zeitraubende Tätigkeit in Conakry. Wie viele Stunden haben wir im Auto oder am Straßenrand verbracht! In der Stadt leben geschätzte 3 Millionen Menschen. Es gibt nur eine Ampelanlage – vor der Residenz des Präsidenten. Jeder fährt eigentlich, wie er will, es erinnert an Fußgänger, die kreuz und quer durcheinander laufen. Mit viel Hupen und Absprachen verständigt man sich. Da das alles im Schritttempo passiert, klappt es in der Regel recht gut, es kostet nur unendlich viel Zeit. Fußgänger müssen auf der Straße gehen, da die Bürgersteige für viele andere Tätigkeiten genutzt werden. Zwischen immer wieder sich aufhäufenden Müllbergen wird verkauft und eingekauft, wird getrunken und gegessen, wird Geschirr gespült und Wäsche gewaschen, werden Autos und Fernseher repariert und alte Geräte nach Brauchbarem ausgeweidet. Um an den Rand von Conakry zu kommen, benötigt man bis zu zwei Stunden. Conakry liegt auf einer langgezogenen Halbinsel, der Hafen und das eigentliche Zentrum liegen unten an der Spitze. So bewegt sich der Verkehr immer in eine Richtung, stadteinwärts oder -auswärts und überwiegend auf einer Straße. Meist sieht man Autos aus unterschiedlichen europäischen Ländern, die bei uns ausgemustert wurden – erkennbar an den alten Länderplaketten und an den Beschriftungen ehemaliger Firmenwagen, es gibt sogar alte gelbe Schulbusse aus den USA. Manchmal taucht ein vertrauter Umweltzonenaufkleber auf. Pannen sind an der Tagesordnung; in den 11 Tagen meines Aufenthalts habe ich vier erlebt:
Am 25.3. haben wir haben den LKW, der unseren Container zum Lagerraum gefahren hat, begleitet, irgendwann versagte seine Kupplung. Am Rande der großen Ausfahrtstraße konnten wir die vielen Händler beobachten, die auch hier ihre Waren anbieten. Auf der Fahrt ans Meer, einen Tag später, versagte dann der Motor von Cordelias und Toures Auto, ein größerer Schaden. Sie mussten mit dem Taxi weiter fahren. Alia hat den Wagen nach Conakry abschleppen lassen, um ihn dort zu reparieren. Er ist ein wahrer Künstler. Und das vierte Mal? Eigentlich eine Kleinigkeit, ein geplatzter Reifen kostete Toure und Marek kostbare Zeit für ihre Filmaufnahmen mit Sow in Dubreka.
Hinzufügen muss ich ein fünftes Mal: Auf der Rückfahrt von Dubreka, wo der Inhalt unseres Containers gelagert wurde, gab es einen kleinen Auffahrunfall. Toure wollte Fußgänger über die Straße lassen, Alia, ein wunderbarer, umsichtiger Autofahrer, konnte rechtzeitig bremsen, der Taxifahrer hinter uns jedoch nicht. Es gab einen heftigen Rums. Nun folgten unendliche Diskussionen mit wechseln- den Teilnehmern, die sich um unsere Autos drängten und ereiferten, obwohl kaum jemand den Unfall beobachtet hatte. Toure stand mittendrin als ruhiger Pol. Es ging nicht etwa darum, wer Recht hatte. Der Taxifahrer hatte kein Geld, aber wir, als Weiße, hatten doch Geld. Die Diskussion wurde in Soussou geführt. Ich habe nichts verstanden, aber alles mit wachsendem Staunen beobachtet. Toure konnte zum Schluss den Taxifahrer von seiner Verantwortung überzeugen.
So ist Warten und sich immer wieder auf veränderte Situationen einstellen das Erste, was man in Guinea lernt. Und Vorsorgen: Immer genügend Essen und Wasser im Auto haben, denn auf der Straße können wir ja nichts kaufen.
In der Familie Sylla
Für Marek und mich haben Cordelia und Toure bei einer Familie zwei Zimmer gemietet. Um einen L-förmigen Gang gruppieren sich verschiedene Zimmer. Man betritt den Gang an der Kochstelle vorbei mit dem vertrauten kleinen Kocher und großen bunten Plastikschüsseln für den Abwasch. Da das Leben sich zum großen Teil in dem schmalen Innenhof abspielt, dürfen wir an allem teilhaben – kochen, essen, Wäsche waschen und sich selbst waschen. Germaine, die 71jährige Mutter und Großmutter der Familie, demenzkrank, wird mit viel Liebe von ihren Kindern und ihrer Enkeltochter Fatime betreut. Was die Religion betrifft, ist man sehr frei. Germaine ist katholisch, unter ihren sieben Kindern gibt es katholische, anglikanische und islamische. Es wird viel erzählt und gelacht, morgens mit dem Sonnenaufgang beginnend, abends gegen 23 Uhr endend.
Unsere Zimmer sind wie alle Zimmer der Familie fensterlos. Eine laute Klimaanlage sorgt für Kühlung und ein Kühlschrank für gekühltes Essen und Getränke sowie für weitere akustische Untermalung. Das kleine Bad“ ist mit Toilette, Waschbecken und einem Abfluss im Fußboden ausgestattet. Die Wasserhähne sind funktionslos, eine Reihe gefüllter Eimer und Wasserkanister ersetzen sie. Marie-Noel, meine Zimmerwirtin, füllt mir die Eimer immer wieder auf. Es gibt öffentliche Wasserhähne in der Stadt, die aber auch nicht immer Wasser liefern. So legen sich manche Menschen Wasservorräte in riesigen Wasserbehältern an. In der ersten Nacht wurde ich von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt. Es klang, als ob ein Wasserfall aufs Haus platscht und die Wand entlang läuft. Der Nachbar füllt seine Behälter halt bevorzugt nachts.
Geld und Einkaufen
Am günstigsten werden Einkäufe auf der Straße getätigt, auf Märkten oder bei den Ich-Ags [ein Begriff, den Cordelia geprägt hat], also Menschen, die ihre Ware in der Hand
oder auf dem Kopf tragen. Viele Händler [meist Frauen oder Kinder] kaufen eine Großpackung und füllen diese in Kleinpackungen um, so wird z.B. Saft und Wasser in kleinen Plastiktüten angeboten. Andere Händler oder Händlerinnen tragen Schuhe in der Hand oder reihen Mangos am Straßenrand auf. Auch Geld wird auf der Straße getauscht und SIM-Karten oder Internetzugänge [per Stick] gekauft. Da von Weißen grundsätzlich höhere Preise verlangt werden und es für uns am Anfang nicht über-schaubar war, wo man was be- kommt, hat Toure alles für uns erledigt. Auf der Straße bekommt man einen günstigeren Wechselkurs als in der Bank. Die Geldwechsler [ein Männerberuf] haben Kontakt zu jemandem in der Bank. Dieser organisiert das Geld günstig, obwohl er und der Straßenhändler daran verdienen. In Guinea ist Infiation, 1 € sind knapp 10.000 FG [guineische Francs]. Das typische Portemonnaie ist eine schwarze Plastiktüte. In den ersten Tagen wechselte Toure mir 500 €. Ich war stolze Besitzerin von 1,8 Millionen FG in 5000 FG-Scheinen, das sind fast 1000 Geldscheine, abgepackt in 100er-Bündeln! Geldzählen ist in Guinea eine zeitraubende Tätigkeit.
Ein Spaziergang in Conakry
Aus dem Haus kommend begrüßt mich das Skandieren der Kinder in der gegenüber liegenden Schule der anglikanischen Kirche. Die Schulen haben keine Fenster, sondern versetzt gemauerte Steine. So ist immer frische Luft in den Klassen. Die hellen Stimmen der Kinder, die überwiegend durch Nachsprechen lernen, sind in vielen Straßen zu hören. Eine TV-Klinik hat ihre Fernseher am Bordstein aufgebaut. In einem offenen Frisiersalon wird einem Mann der Kopf rasiert, nebenan wird aus einem buntbedruckten Stoff ein Kleid genäht. Ein paar Schritte weiter hat eine Frau ihren Kopf auf den Schoß einer anderen gelegt, viele Zöpfchen müssen noch geflochten werden. Ein paar Bänke und eine Kochstelle zeigen ein Straßencafe an. Vor dem Nachbarhaus legt jemand Teppiche unter einem Vor- dach aus. Auf dem Rückweg sehe ich unter der Anleitung eines Vorbeters eine Gruppe von Männern zum traditionellen Gebet knien. Am Straßenrand stehen Autowracks, jemand repariert sein Auto. Immer wieder weiche ich Menschen, fahrenden Autos und Müllbergen aus. Die Menschen sind meist jung, viele Mütter, die ihre Kinder auf dem Rücken tragen sowie eine gefüllte Plastikschüssel, einen Wasserkanister oder einen Stoffballen auf dem Kopf. Viele, viele Kinder unter-schiedlichen Alters, Schüler und Schülerinnen in ihren beigefarbenen Uniformen, manche Mädchen in rot-weiß-karierten Kleidern. Manchmal höre ich das Wort fohti“ [ Weiße“, ausgesprochen wie das englische fourty]. Das Pendant ist fore“ [Schwarzer, ausgesprochen wie das französische foret]; und schnell entwickelt sich daraus ein Spiel: Fohti!“ Fore!“ Fohti!“ Fore!“
Die Kinder schauen zunächst ernst, lächle ich sie an, breitet sich ein herzerwärmendes Strahlen über ihr Gesicht aus. Auch Kontakte zu Frauen lassen sich leicht knüpfen. Viele Menschen haben schöne, klare Gesichter. Ich habe keine Angst, allein zu gehen. Aggressionen sind nicht zu spüren. Eine Gruppe von Ziegen und einige ockerfarbene Hunde suchen sich Futter. Ein junger Mann mit Mundschutz, völlig mit grauem Schmutz bedeckt, schiebt einen hohen, zweirädrigen Karren. Er sammelt Müll ein und bringt ihn zur Mülldeponie. Und alles ist überpudert von rotem Staub, jeder Baum, jeder Strauch, jeder Stein.
In der Ferne sehe ich Minarette und ganz in der Nähe, direkt gegenüber vom Sitz des Präsidenten, einen Kirchturm. Ich betrete die Kirche, es ist die Kathedrale von Conakry,
ein großes, helles Gebäude mit Glasfenstern in bunten Farben und Darstellungen von Bildern von weißen Heiligen. Im Hintergrund höre ich Stimmengewirr aus der dazugehörigen Schule.
Korruption
Guinea gehört zu den korruptesten Ländern der Welt. Jeder sorgt für sich und die Auswirkungen sind überall spürbar. Ein Beispiel ist das Geldwechseln, das ich oben schon beschrieben habe. Da alle Angestellten kaum etwas verdienen, müssen sie sich Zusatzeinnahmen verschaffen: Polizisten halten ohne erkennbaren Grund Autos auf der Straße an, gegen eine angemessene Zahlung, darf man weiter fahren. Alle öffentlichen Genehmigungen werden nur mit langwierigen Verzögerungen erstellt, denn jeder möchte daran verdienen.
Allein für die Bestätigung, dass unser Antrag eingegangen ist, mussten wir ca. 15 € zahlen. Dies ist aber erst der erste Schritt. Viele weitere Angestellte folgen. So ist zu verstehen, dass es vier Wochen gedauert hat, bis der Container freigegeben wurde. Auf dem Flughafen wollte man Marek seine Koffer nicht aushändigen, dank Toures Einsatz musste er keine Extrazahlungen leisten.
Sow und Dubreka
Sow, seine Familie und seine Freunde habe ich beim Ausräumen des Containers nur kurz kennen gelernt. Diese Waren sind jetzt in Dubreka in der Nähe der neuen Unterkunft der Gruppe sicher gelagert. Denn die körperbehinderten Menschen wurden kurzerhand aus
Conakry ausgesiedelt, da sie bei einem Staatsbesuch das Straßenbild störten. Sie leben zwar nicht mehr unter einer Brücke, haben aber alle gemeinsam nur einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, Wasser ist in weiter Entfer- nung, und ihre Geldeinnahme, die Spenden der Besucher der Moschee, ist ihnen genommen. Sow, der Sprecher der Gruppe, ist ein intelligenter, nachdenklicher Mann, vor dessen Mut, Kraft, Zielstrebigkeit und Ausdauer ich viel Hochachtung habe. Cordelia und Toure sind mit unserem Verein eine große Hoffnung für ihn und seine Gruppe.
Es gibt inzwischen geeignete Räume für uns in Dubreka und viele Pläne, diese zu beleben; aber all das werden Cordelia und Toure berichten, wenn sie wieder hier sind.
Auch wenn ich wegen der schwierigen Lebensumstände dort und der Ausbreitung von Ebola bereits nach 11 Tagen gefahren bin, trage ich viele Eindrücke in mir. Es ist schwer, ein Bild vom Leben in Guinea zu vermitteln. Ich versuche es mit meinen Worten, aber noch eindrücklicher werden dies die vielen Fotos von Cordelia und vor allem die unzähligen Fotos und Filmaufnahmen von Marek zeigen können. Aber alles zeigt immer nur einen kleinen Ausschnitt. Die Gesamtheit dieses unglaublichen, energiegeladenen Chaos von Menschen, von Autos, Hütten, Häusern, Bauruinen, Müll, leuchtenden Farben, von Stimmen, Lachen, Hupen und Motoren, von Autoabgasen, Holzkohlefeuern, Kloaken- und Essensdüften ist einzigartig und überwältigend und lässt sich nicht übermitteln.
von Bettina Wilker, April 2014